Bevor die Bilder laufen lernten.
Zum 125. Todestag von Gustav Castan am 21.7.2024
Von Angelika Friederici
London 1854. Gerade hatte in West-End an der Ostseite des Leicester Square der prachtvolle Neubau Royal Panopticon of science and art eröffnet: ein Tempel der Volkskultur, des Wissens und der Bildung aller englischer Klassen, Stände und Geschlechter – erbaut von den Ruinen, in welche die Mauern aristokratischer und hierarchischer Zünfte des Glaubens und Wissens zerfallen. So begeistert berichtete ein deutscher Besucher über dieses Ausstellungshaus, und bezeichnete den neuen Kristall-Palast, bekannt von der dort stattgefundenen Weltausstellung 1851, als Sonne dieser neuen Kultur-Demokratie, während ihm das Londoner Panopticon als dessen nächster Planet galt: als Planet, der eine erste Volks-Universität für modernes, allseitiges, theatralisches und praktisches Wissen darstelle.
Starke Eindrücke also für die in Birmingham und London lebenden Berliner Bildhauerbrüder Louis und Gustav. Viele davon schlugen sich nieder, als Gustav Castan, dauerhaft zurück in Berlin, in seiner 1869 eröffneten Eigengründung Mr. Castan’s London West-End Museum diesen demokratischen Geist hierher überführte und 1872 seine Ausstellung erneut, diesmal direkt gegenüber dem Stadtschloss, als Berliner Panopticum etablierte. Nach der Rückkehr 1874 seines älteren, repräsentativer und charismatischer veranlagten Bruders Louis in die junge Reichshauptstadt – gewesener Schadow-, Rauch- und Tieck-Schüler an der Berliner Kunstakademie – hieß das künftig konzeptionell pionierhaft arbeitende, lebensgroß-plastisch ausstellende Bildmedium nur noch Castan’s Panopticum.
Meyers Konversationslexikon verstand unter diesem Begriff 1896 eine ‚alles‘ zur Anschauung bringende Anstalt, also eine Sammlung von allerlei Apparaten zur anschaulichen Belehrung durch Experimente etc; dann eine Sammlung von vielerlei Gegenständen […] hauptsächlich Wachsfiguren, daneben aber auch historisch, kulturgeschichtlich und ethnographisch interessante Gegenstände. Dazu veranstalteten die Castans neben ihrer im Kerngeschäft betriebenen Dauerausstellung mit Porträtfiguren ergänzende Wechselausstellungen, erwarben Nachlassobjekte wie die letzte Uniform Friedrichs II., die später vom Berliner Zeughaus angekauft wurde, und gaben an fester Adresse seit 1873 in der Friedrichstraße zehn Stunden täglich auf mehreren Bühnen gleichzeitig verschiedenen Ausstellungsformaten Platz: wächsernen und gipsernen Originalen und seriellen Abformungen, transformierten Gemäldeinszenierungen, szenischen Nachbauten sowie den Vorführungen diverser Lebender in Form von Völkerschauen, auch der Zauberkunst, den optischen Illusionen, den Theaterpossen und dem Cabaret. Selbst Menschen mit anatomischen Besonderheiten konnten hier ihren Lebensunterhalt bestreiten, wirtschaftlich oft äußerst erfolgreich. Hinzu kam die Ausstellung von Fotographien, das Betreiben von Grammophonen und seit 1899 die dauerhafte Vorführung kinematographischer Films inmitten dekorativer Wachsplastik.
Zu den bizarrsten durch die Castans selbstgefertigten wächsernen Transformationen mögen Raffaels Sixtinische Madonna, Begas des Älteren Mohrenwäsche oder Richard Wagners Ring des Nibelungen gehört haben – doch die vielen Besucher waren sehr zufrieden. In Kreisen kontinentaleuropäischer Hochkultur hingegen galten kunsthandwerkliche Übertragungen in ein lebensgroß-plastisches Bildformat als Sakrileg. Ganz anders als in England fand die lebensgroße Porträtfigur hier nur Anerkennung innerhalb ihres höfischen Einsatzes. Und lediglich aus rein kunsthistorischer Sicht stellt sich bis heute die Frage, ob sich Castan’s Paradestücke für eine Übersetzung in’s Wachsplastische überhaupt geeignet hatten, denn Imaginäres wurde dadurch auf Sichtbares begrenzt, jedes Ursprungswerk verlor damit einen Teil seiner Poesie.
Dieser Überlegung ließe sich folgen, schlösse sie nicht den Wesenskern eines programmatisch breit aufgestellten historischen Panoptikums vollkommen aus: nämlich Gedanken, Mythen, Werke, Personen, Geschichtliches und Aktuelles ins Lebensgroße und Plastische zu transformieren und vorzuführen, um es Jedermann vor Augen führen zu können: um zu popularisieren. Selbst sprachlich muss der Vorgang solcherart intensivierter Augenschein-Wahrnehmung sehr gegenwärtig gewesen sein, wenn 1901 in den Buddenbrooks durch Thomas Mann das empathische Vorstellungsvermögen der Familie durch seine Aufforderung aktiviert wurde, sich nun einmal folgendes zu figurieren.
Die Castans inspirierten. Gustav Landauer plante in den 1890er Jahren einen Roman, der unter dem Titel Der Eskimoheiland in Grönland beginnen und in Castan’s Panopticum enden sollte, während es Theodor Fontane 1897/98 gelang, im Stechlin nicht nur ganz am Rande das kommerzielle Wesen einer Völkerschau literarisch freizulegen, sondern auch gleich den ganzen medialen Kern eines Panoptikums. Fontane ließ seine Figur des Hauptmanns Czako freimütig und selbstironisch von dessen Panoptikumbildung sprechen: einer Halbbildung, die auf der anschaulichen Kenntnis einer Sache fußte, nicht jedoch auf deren intellektuellem Durchdringen. Mit großem Erfolg brachte Rudolf Nelson 1907 in den Räumen der Castans sein legendäres Chat Noir heraus, und Claire Waldoff ließ sich 1908 zu ihrem Gassenhauer Det Scheenste sind de Beenekens hinreißen, wenn es dort heißt: Sonntags ging ick voller Mumm / einmal ins Panoptikum / um anzusehn mir dort ein Weib / die Dame ohne Unterleib. Selbst ein Karl May kann Castan’s Panopticum persönlich gekannt haben, wie sich aus einer aufschlussreichen Bemerkung des Jahres 1910 herauslesen ließe. Alfred Döblin taumelte 1909 zwischen Ehrfurcht und Entsetzen, wenn er über den Zweifel ätzt, als Besucher erst einer grimassierenden kaiserlichen Familie seine Reverenz erweisen oder zunächst die Daumenschraube besichtigen zu sollen. Joseph Roth sah 1921, wie Weltgeschichtssegmente, in Wachs geformt, des erbarmungslosen Flüchtigkeitsgesetzes aller Begebenheiten erlöst werden und [dauerhafter als Erz] sicht- und greifbar aus der Welt der Abstraktion ins entschiedene Dasein der Materialismen treten.
Nach dem Unternehmensende 1922, seit den verwissenschaftlichenden, technisierenden, individualisierenden, tendenziell frivolen 1920er Jahren taugte der nicht mehr existente Unternehmenstyp Panoptikum, für den es heute keine Entsprechung gibt, noch immer zur Erinnerung, als Allegorie, zur Metapher.
Schon 1922 deklarierte Roth das inzwischen geschlossene plastische Multimedium als wächserne Kulturgeschichte und erkannte 1923, dass es im Zeitalter des Kinos nichts mehr zu erfüllen hätte. Jedoch gerade in Hinblick auf den Verlust von Ruhmeshalle und Schreckenskammer schien künftig dies Institut für Walter Mehring ganz unersetzlich für Hygiene und Kanalisation der Heldenverehrung zu sein, wie er 1922 in seiner in der Weltbühne publizierten Grabrede auf Castan’s Panopticum schrieb, nachdem er bereits 1921 eine hellsichtige Ballade vom Panoptikum verfasst hatte, die sich auf die jüngere Konkurrenz bezog, auf das 1888 gegründete Passage Panoptikum. Ebenfalls 1922 schrieb man dem Inflationskönig Hugo Stinnes satirisch-ironisch den Erwerb aller Castan’schen Figuren zu, der diese – in einer ihm gelegener erscheinenden Zeit – zu neuem Glanze erstehen lassen wolle. 1929 erinnerte sich Ernst Bloch an seinen bei den Castans erhaltenen Eindruck, dass die meisten der Porträtfiguren völlig mit sich als Puppe beschäftigt schienen und daran, dass ihr Charakter fest steht unter der Zeitlupe aus Stille und Vitrinenglas. Hans Fallada reflektierte 1941 seine Jugendzeit, in der er sparsam sein wollte, um gegen den erklärten Willen des Vaters eines Tages viel an Kastans Panoptikum verschwenden zu können. Erich Weinert dichtete 1942 weitsichtig die spätere Aufstellung des Führers im Panoptikum als ausgestopften Schinder, über dessen unbedarftes Äußeres sich nachfolgende Generationen nur verwundern würden, während Erich Kästner 1947 voller Überzeugung meinte, dass die Zeit von Panoptikum und Wachsfigurenkabinett vorüber ist. Der Film hat sie ruiniert. Dem Stummfilm folgte der Tonfilm, dem Schwarzweißfilm der Farbfilm, – eine Schlacht nach der anderen ging verloren. Und nun wird gar der plastische Film angekündigt. Wie sollte ein Panoptikum aussehen, das dagegen ankämpfen könnte? Nein, die Niederlage ist endgültig.
Zahlreiche originale Porträtfigurinen, Gipsmasken, Handabgüsse und anatomische Modelle wurden seit 1972 in Westberlin öffentlich ausgestellt, dann ihrer Berliner Wurzeln entkleidet und vom privaten Besitzer 2013 weiterverpachtet nach Mannheim; beide inszenierte Aufstellungen blieben kulturhistorisch misslungen, wurden jedoch als programmatisch, medial und konzeptionell unvollkommenes, überholtes und schwaches Remake erneut öffentlich zugänglich. Dann verschwand die Castan’sche Sammlung endgültig. Neuerdings muss ein kaiserzeitliches Bildmedium wie das historische Panoptikum als ideologische Folie herhalten, wird wieder zum Gegenstand vereinzelter, vereinzelnder Betrachtung durch die Kultur-, Literatur- und Medienwissenschaften, seit 2008 endlich zum historischen Forschungsgegenstand.
Auch Schriftsteller und Publizisten konnten stets unbeschadet ihr Mütchen kühlen an diesem Genre, wie das 1941 Hedwig Rohde tat, als sie in ihrem Text scheinbar naserümpfend die misslungene Wachsfigur Otto von Bismarcks hervorhob, sie gedanklich in die Nähe des Massenmörders Jack the Ripper rückte. Oder benutzte sie die Figur nur stellvertretend, wollte eigentlich die Wirksamkeit des Politikers schmähen? Der wächserne Fürst samt originaler, von ihm 1870/71 getragener Kürassieruniform war nach seiner Versteigerung 1922 für 8000 Mark ins holländische Exil geraten. Fotographien dokumentieren die Porträtfigur bis heute als äußerst präsent wirkend. 1874 hatte der erste Reichskanzler des deutschen Kaiserreichs, der sich eigentlich nur Franz von Lenbach zur Verfügung stellte, bei Louis Castan eine Ausnahme gemacht und sich von ihm nach der Natur modellieren lassen. Möglicherweise entstand später noch eine altersangepasste Büste. 1898 war im Panopticum die nachinszenierte Aufbahrung Bismarcks zu sehen gewesen: auf einem hohen Katafalk stand der offene, mit Silber beschlagene Sarg mit der nachgeformten Gestalt, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, die Augen unter den buschigen Brauen geschlossen. Das Gesicht ist sprechend ähnlich und der Ausdruck so natürlich, daß man auf den ersten Blick erkennen kann, daß Herrn L. Castan bei der Ausführung dieser künstlerisch werthvollen Arbeit vorzügliche Anhaltspunkte zur Verfügung gestanden haben, heißt es in der Vossischen Zeitung. Unzweideutig ist die Bildunterschrift zu einem Beitrag des Bismarckforschers Ernst Engelberg 1965 im Neuen Deutschland: Ausverkauf der höchsten Werte 1922. Als die Woge der Inflation anschwillt, versteigert Castans Panopticum in Berlin seine Effektstücke, darunter auch Bismarck, den dekorativen Altreichskanzler. Der Geist des preußischen Militarismus blieb damals erhalten, während der Bourgeoisie Bismarcks Realismus abhanden kam.
Auch an anderer Stelle Ostberlins war Castan’s Panopticum nicht vergessen, wie ein Archivfoto des 1970 aufgeführten Programms Feuerstein bis Fernsehturm. Berliner Humor im Kabarett-Theater Distel belegt, und schon im März 1990 berichtete die Berliner Wochenpost ausführlich über das in Westberlin gelegene Panoptikum am Ku’damm-Eck, das 1996 für immer geschlossen wurde.
Kein Geringerer als der preußische Regierungspräsident und Widerstandskämpfer Ernst von Harnack war es gewesen, der 1943 die Bedeutung von Gustav Castan für die Berlingeschichte noch kannte und durch seinen Vermerk in der Gräberkartei sicherstellte, dass man sich die Lage dessen (heute verschwundenen) Grabes auf dem Friedhof der französisch-reformierten Gemeinde in der Liesenstraße bis jetzt imaginieren kann: nahe einer weißblühenden alten Kastanie. Nur einige Meter weiter liegt dort auch sein Bruder Louis Castan, der 1908 starb, und dessen 115. Todestag sich im Jahr 2023 jährte.
Copyright Angelika Friederici, Berlin 2024
Ausführlicher nachzulesen und bibliographisch nachgewiesen im 2024 erschienenen Dokumentenband Castan’s Panopticum und Passage Panoptikum, Berlin. Eine Rekonstruktion aus Programm, Literatur und Wissenschaft, Verlag Karl-Robert Schütze, ISBN 978-3-928589-33-8.